Nach dem Putsch ist vor dem Putsch, unken die Türken. Genauer gesagt: die Gegner der konservativ-muslimischen Regierungspartei und von deren Führer Tayyip Erdogan. Die erste Massenverurteilung von Generälen und hohen Offizieren der türkischen Armee öffnet dem Premierminister den Weg zur Umgestaltung der Republik, heißt es. Weg vom republikanisch-säkularen Staat und seinem selbsternannten Gralshüter, der allmächtigen Armee, hin zu einem wolkigen Gottesstaat der Imame.

Doch Erdogan gewinnt schon seit zehn Jahren. So lange ist seine Partei an der Macht. Und die islamische Revolution am Bosporus hat sich immer noch nicht eingestellt.

Das Berufungsverfahren für die verurteilten 300 angeblichen Putschplaner wäre eine Gelegenheit, um einige Ungereimtheiten in den belastenden Materialien aufzuklären und Urteile zu korrigieren. Doch das Ende dieses ersten Putschprozesses könnte für die Türken auch ein Anlass sein, ihr Verhältnis zur Armee zu überdenken.

Im Nationalrauschland Türkei erhält jeder Tote, den die Armee und die Hinterbliebenen der Soldaten zu beklagen haben, automatisch das Etikett " Märtyrer". Doch Soldaten aus zumeist einfachen Verhältnissen, die wie jüngst bei der Explosion eines Munitionslagers oder beim Angriff auf ungeschützte Reisebusse umkommen, sind weniger "Märtyrer" als möglicherweise Opfer inkompetenter Militärführer. Diesen Vorhang muss die türkische Justiz noch lüften. (Markus Bernath, DER STANDARD, 24.9.2012)